IN SPECULO. Perspektiven der Niederlande-Forschung

IN SPECULO. Perspektiven der Niederlande-Forschung

Organisatoren
Arbeitskreis Niederländische Kunst- und Kulturgeschichte e.V. (Suermondt-Ludwig-Museum)
Ausrichter
Suermondt-Ludwig-Museum
PLZ
52070
Ort
Aachen
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
29.10.2023 - 31.10.2023
Von
Kathrin Aschmann, Institut für Kunstgeschichte, Universität Stuttgart; Malte Reichl, Institut für Kunstgeschichte, Universität Stuttgart

„IN SPECULO. Perspektiven der Niederlande-Forschung“ lautete der Titel der Tagung zum 15-jährigen Vereinsjubiläum des Arbeitskreises Niederländische Kunst- und Kulturgeschichte (ANKK). Die Teilnehmenden folgten der Einladung des Suermondt-Ludwig-Museums nach Aachen, um über drei Tage hinweg facettenreiche Beiträge zur aktuellen Niederlande-Forschung zu hören und anregende Diskussionen zu führen. Das Team um Museumsdirektor Till-Holger Borchert bot den Anwesenden mit Kuratorenführungen durch die aktuelle Bestandsausstellung „Heimspiel. Flämische Malerei zu Hause in Aachen“, die ständige Sammlung, die Restaurierungswerkstätten und das Depot exklusive Blicke hinter die Kulissen. Das wohl wichtigste Thema der gesamten Tagung bildeten die gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten, die Anpassungen sowie neue Positionen und Ansätze in der kunsthistorischen Forschung erfordern. Dieses „Nicht-Stehenbleiben“ und „Sich-Öffnen“ des Faches drückte sich hervorragend in der Trias des Tagungsprogrammes aus. Während die Sektion „Chancen durch Scheitern“ sich mit den Hürden, Herausforderungen und Schwierigkeiten der niederländischen Kunstgeschichte beschäftigte, sollten die Einheiten „Work in Progress I & II“ Einblicke in aktuelle Forschungsvorhaben bieten.

Der erste Teil dieser Sektion bot vor allem dem wissenschaftlichen Nachwuchs die Chance, auch unabhängig vom Tagungsthema von laufenden Promotions-, Forschungs- und Ausstellungsprojekten zu berichten. Begleitende Workshops halfen, die gewonnenen Ansätze direkt in praktische Anwendungsfelder zu überführen, um ganzheitliche Ergebnisse für kommende wissenschaftliche Auseinandersetzungen zu generieren. Dass sich auch die Kunst der Vormoderne den aktuellen Debatten rund um feministisch-queere Methoden nicht verschließt, sondern diese bereitwillig annimmt und sich diesen öffnet, bewies vor allem die Sektion „Gesellschaftliche Diskurse“, die im Rahmen einer Podiumsdiskussion die Möglichkeiten einer bisher eher vernachlässigten wissenschaftlichen Aufarbeitung neue Perspektiven aufzeigte.

Nach dem Austausch der Berufsgruppen, Museen, Hochschulen und freie Berufe sollte planmäßig ein feierlicher Abendvortrag von Koenraad Rosens (Loeven) den Auftakt der Tagung bilden. Aus persönlichen Gründen konnte dies nicht stattfinden, allerdings sprang der Vereinsvorsitzende MAURICE SAß (Alfter) als Vortragender ein und füllte diese Lücke mit einem gedanklichen Ausschnitt seiner Habilitationsschrift. Unter dem Titel „Rubens‘ Jäger: Grenzgänger zwischen Natur und Kultur“ beschrieb Saß die Jagd als zentrales Thema der frühneuzeitlichen Kunst und verknüpfte dies mit der strukturellen Gemeinsamkeit innerhalb der Dialektik von Kultur und Natur. Vor dem Hintergrund des nachmittelalterlichen Kunstverständnisses machte Saß in seinem Beitrag die Verbindung von Jagd und Kunst, das durch den Künstler geprägte Bild der Jagd, die Naturaneignung durch den Menschen und schließlich den aktuellen Umgang mit der Natur in unserer heutigen Zeit stark. Diese komplementären Thesen wurden anhand von drei recht unterschiedlichen Arbeiten in Öl aus dem Œuvre Rubens verdeutlicht.

Die Sektion „Work-In-Progress I“ wurde von MARTIN HANßEN (Jena) mit dem Vortrag „Eine Madonnentafel vom Meister des Marienlebens. Einblicke in die Werkgenese und Überlegungen zur Rekonstruktion des Andachtsbildes“ eingeleitet. Im Rahmen seines Dissertationsprojektes vergleicht Hanßen derzeit circa 60 dem Meister des Marienlebens und seiner Werkstatt zugeschriebene Andachtsbilder mithilfe kunsttechnologischer Untersuchungen. Ziel dieser Arbeit ist das Erschließen neuer Werkgruppen sowie weiterer Differenzierungen zwischen einzelnen Künstlerpersönlichkeiten aus dem Umfeld des Künstlers.

HENDRIK HOLZMÜLLER (Münster), dessen wissenschaftliche Heimat in der Nachbardisziplin der historischen Bildungswissenschaften anzusiedeln ist, präsentierte mit seinem Promotionsprojekt einen spannenden Einblick in die deutsch-niederländischen Bildungs- und Kunstverflechtungen des 18. Jahrhunderts. Anhand ausgewählter Briefe des jungen Alexander von Humboldt, die dieser zur Zeit seiner Niederlandereise verfasste, gelang es Holzmüller, die Unkenntnisse der christlichen Tradition gegen Ende des 18. Jahrhunderts und die daraus resultierenden Missverständnisse in der Kunstdiskussion zu illustrieren. In genannten Briefen äußert sich Humboldt zunächst spöttisch über Rubens’ Himmelfahrt Mariens, welche sich in der Antwerpener Onze-Lieve-Vrouwekathedraal befindet, und vergleicht diese später mit einer vermeintlichen Mariendarstellung in der Westzijderkerk in Zaandam, bei der es sich allerdings um ein profanes Bildsujet handelt. Da das Gemälde jedoch in einer Kirche zu verorten ist, kann sich dem missverständlichen Gedanken angenähert und gleichzeitig über den deutsch-niederländischen Kulturkontakt des ausgehenden 18. Jahrhunderts nachgedacht werden. Die Reisebeschreibungen von Humboldt offenbaren bei allen freimütig und versteckt geäußerten Vorurteilen auch ein fasziniertes Interesse für die anhaltende Strahlkraft der niederländischen Kultur im 18. Jahrhundert, die Holzmüller en passant im Rahmen seines Vortrags immer wieder zur Sprache brachte.

SABRINA RAPHAELA BÜBL (Salerno) präsentierte dem Publikum in ihrem Vortrag zwei bisher weniger beachtete Manuskripte des Wiener Kunsthistorikers Max Dvořák. Zeitlich sind diese zwischen seiner bekannteren Studie „Das Rätsel der Kunst der Brüder van Eyck“ (1903) und seinem aus heutiger Sicht wohl bedeutendsten Werk „Idealismus und Naturalismus in der gotischen Skulptur und Malerei“ (1918) anzusiedeln und sollen, laut Bübl, Dvořáks Verständniswandel hinsichtlich der Rolle Jan van Eycks in der kunsthistorischen Bewertung zwischen Traditionalist und Innovator neu bewerten.

Eine „Neuzuschreibung eines Gemäldes an Carel van Mander III“ durch SONJA VILSMEIER (Dubai) eröffnete die zweite Sektion des Vormittags. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen vergrößern das bisher kleine Œuvre des Künstlers, der als Hofmaler vor allem am dänischen Königshaus tätig war, um ein weiteres Werk und werfen exemplarisch einen differenzierteren Blick auf die Rembrandt-Schule. Ihre Fallstudie eröffnet neue Forschungsmöglichkeiten um Fragen der Zuschreibung und wirft ein neues Licht auf die weite Verbreitung der Rembrandt-Schule jenseits der niederländischen Grenzen.

FRIEDERIKE SCHÜTT (Frankfurt am Main) begann 2023 im Städel Museum mit der wissenschaftlichen Untersuchung von 137 deutschen Gemälden aus der Zeit von 1725 bis 1800, deren Ergebnisse in einen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Bestandskatalog münden werden. Auffällig hierbei ist die Rezeption niederländischer Einflüsse in diesen Werken, die sich vor allem in formal-ikonografischen Aspekten abzeichnen. Ihre Forschung verspricht, vertiefende Erkenntnisse über die Niederlande-Rezeption in Frankfurt zu gewinnen und diesen Austauschprozess schärfer konturieren zu können.

Der Vortrag von THOMAS KETELSEN (Weimar) und CARSTEN WINTERMANN (Weimar) legte einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Materialanalyse der letzten 15 Jahre anhand der Rembrandt-Zeichnungen in Weimar dar. Durch neue Untersuchungsmethoden sowie ein geschicktes Zusammenwirken der Röntgenfluoreszenzanalyse und der Infrarotspektroskopie können heutzutage schärfere Trennlinien der verwendeten Zeichenmaterialien vorgenommen werden. Eine Etablierung dieser Analysemethoden führt zu einer signifikanten Weiterentwicklung der Kunstgeschichte im Bereich der Materialanalytik, stellt das Fach aber auch vor neue methodische Fragen. Ketelsen und Wintermann zeigten diese neuen Möglichkeiten und Grenzen auf und boten einen Ausblick auf das künftige Zusammenspiel von Stilkritik und Materialanalyse. Die vorgestellten Untersuchungsmethoden wurden zudem in einem Workshop anhand von ausgewählten niederländischen Zeichnungen ausgeführt und vertieft.

In der Sektion „Gesellschaftliche Diskurse: Gender – Queerness – Intersektionalität: Perspektiven auf alte und neue Forschungsfelder“ diskutierten Lisa Hecht (Marburg), Justus Lange (Kassel), Birgit Ulrike Münch (Bonn), Annika Lisa Richter (Hildesheim), Maurice Saß (Alfter) und Anja Sevcik (Köln). Diskutiert wurde, inwiefern Kunstwerke heutzutage einer Kontextualisierung unterzogen werden sollten, wenn die Arbeiten sich inhaltlich und/oder formal durch sexistische, rassistische oder durch andere Formen diskriminierend äußern. Angesichts der unleugbaren Relevanz dieser Themen für die niederländische Kunst- und Kulturgeschichte waren sich die Diskutant:innen einig, dass es einer methodischen und didaktischen Aufarbeitung oder gar Neuaufstellung in allen Feldern des Fachs bedarf, die bisher noch in den Kinderschuhen steckt und nicht nur Aufgabe des Nachwuchses sein sollte. Die Fruchtbarkeit dieser Diskussionsrunde war der umfangreichen Expertise sowie der Arbeitsfelder-Diversität der einzelnen Beitragenden zuzuschreiben. Während Richter als Vorstandsvorsitzende der AG Feministisch-Queere Kunstwissenschaften des Ulmer Vereins ihre Arbeitsgemeinschaft zur Erarbeitung und Vertiefung feministisch-queerer Methoden in der Kunstgeschichte als Nachwuchsprojekt vorstellt, widmet sich Lange in seiner Ausstellung „Alte Meister que(e)r gelesen“ der Mehrdeutigkeit vormoderner Bildersprache vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Sensibilisierung. Diese Verquickung unterstreicht nicht zuletzt auch den Stellenwert und die Relevanz frühneuzeitlicher Kunst in unserer heutigen Zeit.

Die Wissenschafts- und Technikforschung bemüht sich seit einiger Zeit darum, eine „history of failure“ zu schreiben, in der jene Instrumente und Theorien gewürdigt werden, die sich nicht durchgesetzt oder die sich als Irrtum erwiesen haben. Diesen Phänomenen widmet sich die Sektion "Chancen durch Scheitern". Die Vortragenden PABLO SCHNEIDER (Berlin / München), CHRISTIANE HEISER (Köln), JACQUELINE KLUSIK-ECKERT (Puschendorf) und MARTINA NIBBELING-WRIEßNIG (Berlin) beschäftigten sich in ihren Beiträgen mit den Herausforderungen der eigenen Forschung durch institutionelle Hindernisse, äußere Umstände, wissenschaftliche Irrwegen sowie mit dem Scheitern von Kunstschaffenden. Ihnen allen gemeinsam war das Interesse am vielleicht im ersten Moment nicht zielführenden Weg, der jedoch immer mit einem Erkenntnisgewinn einherging.

In seiner Gesamtheit bot das 15-jährige Jubiläumstreffen des ANKK ein abwechslungsreiches Programm, welches die breite und innovative Aufstellung der Niederlandeforschung deutlich zur Sprache brachte. Ganz im Sinne des titelgebenden Mottos "IN SPECULO", unter welchem die Tagung stattfand, boten die Vorträge nicht nur ein methodisches „Zurück-zu-den-Quellen“, sondern auch eine Reflexion und eine damit tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem eigenen Fach. Äußerste Hervorhebung gebührt den begleitenden Führungen und Workshops, die sowohl einen Praxisbezug garantierten als auch weiteren Raum für fruchtbare Diskussionen boten. Schließlich bewies vor allem die Podiumsdiskussion, dass sich die Bildkünste der Frühen Neuzeit beim Mitmischen wichtiger und aktueller gesellschaftlicher Debatten nicht ausschließen. Stattdessen demonstrierte sich ein institutionenübergreifender Konsens im Punkt zeitgemäßer Vermittlungsstrategien, die sich feministisch-queerer Methoden bedienen.

Konferenzübersicht:

Abendvortrag
Moderation: Till-Holger Borchert (Aachen)

Maurice Saß (Alfter): Rubens' Jäger: Grenzgänger zwischen Kultur und Neuzeit

Sektion: Work-In-Progress I
Moderation: Till-Holger Borchert (Aachen)

Martin Hanßen (Jena): Eine Madonnentafel vom Meister des Marienlebens. Einblicke in die Werkgenese und Überlegungen zur Rekonstruktion des Andachtsbildes

Hendrik Holzmüller (Münster): Marias Pantoffel. Was eine eigenwillige Bildinterpretation des jungen Alexander von Humboldt über deutsch-niederländische Kulturkontakte des späten 18. Jahrhunderts verrät

Sabrina Raphaela Bübl (Salerno): Traditionelles Erbe oder Wendepunkt in der Kunstgeschichte? Max Dvořák betrachtet Jan van Eyck

Sektion: Work-In-Progress II
Moderation: Michael Rief (Aachen)

Sonja Vilsmeier (Dubai): Neuzuschreibung eines Gemäldes an Carel Mander III

Friederike Schütt (Frankfurt am Main): Bestandskatalog Deutsche Gemälde im Städel Museum 1725-1800

Thomas Ketelsen (Wiemar) / Carsten Wintermann (Weimar): Das Unsichtbare sichtbar machen: 15 Jahre Materialanalyse in der Zeichnungswissenschaft – Über Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel der Rembrandt-Zeichnungen in Weimar, Vortrag und Workshop

Sektion: Gesellschaftliche Diskurse
Moderation: Hendrik Ziegler (Marburg)

Titel: Gender – Queerness – Intersektionalität: Perspektiven auf alte und neue Forschungsfelder

Teilnehmende: Lisa Hecht (Marburg), Justus Lange (Kassel), Birgit Ulrike Münch (Bonn), Annika Lisa Richter (Hildesheim), Maurice Saß (Alfter), Anja Ševčík (Köln)

Sektion: Chancen durch Scheitern I
Moderation: Wibke Vera Birth (Aachen)

Pablo Schneider (Berlin/München): Rembrandt abgelehnt! Jede Zeit hat die Renaissance der Antike, die sie verdient

Christiane Heiser (Köln): Ein zweitrangiger Künstler? Johan Thorn Prikkers Weg vom Depot in die Sammlungspräsentation deutscher Kunstmuseen

Sektion: Chancen durch Scheitern II
Moderation: Sarvenaz Ayooghi (Aachen)

Jacqueline Klusik-Eckert (Puschendorf): Alles außer Spranger. Wie aus einer Monographie ein Buch über Kopien wurde

Martina Nibbeling-Wrießnig (Berlin): Falsch gewickelt! – Fast ein frühes Beispiel flämisch-indigenen Kulturtransfers

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